Vom Glück und Unglück der Recherche

Tierliche Präparate sind keine Seltenheit in der Literatur. BLÖSSE und EINST WERDEN WIR ENDLINGE SEIN reihen sich ein in eine Poetik der Präparation. Wer saftig nacherzähltes How-to erwartet, sollte die Finger von meinen neuen Büchern lassen und zu You-tube wechseln. Wer wissen will, was tierliche Häute uns Heutigen sagen können, kommt an Innen-/Außensichten, Kultur-/Natur und damit – Sprache – nicht vorbei.

Irgendwo zwischen Renthendorf und Rudolstadt gab mein Smartphone den Geist auf. Dabei sollte es mich zur Brehm Gedenkstätte und zum Naturkundlichen Museum in der Heidecksburg führen. Danach weiter ins Ernst-Haeckel-Haus Jena und schließlich ins Deutsche Hygienemuseum Dresden und retour über das Naturkundemuseum Erfurt.

Beim nächstbesten Phone-Doc hieß es, da sei nichts zu machen. Ich erstand ein Ersatzgerät und begann wie früher, bevor es Mobiltelefone gab: Menschen ansprechen, nach dem Weg erkundigen, Neues hören.

So erfuhr ich, dass das Thüringer Landesmuseum Heidecksburg zwar geöffnet, aber das
Naturhistorisches Museum wegen einer anstehenden Modernisierung schon geschlossen sei. Ausgerechnet der Ort, der etliche Dermoplastiken von Philipp Leopold Martin verwahrte, dem Erfinder des Naturschutzes und seines Begriffs  – die Homepage hatte darüber gar keine Auskunft erteilt

Eine freundliche Telefonstimme schlug vor, der Zoologischen Präparatorin Anett Rode-Weingarten Bescheid zu sagen und diese zu bitten, mich ausnahmsweise einzulassen. Dank dieser Vermittlung erhielt ich Einblicke in die Werkstatt, die historische Schausammlung und das Depot. Präparate Martins, die ich nur aus Abbildungen kannte, standen endlich vor mir.  

Ausgestattet mit einem Plus an Hintergrundwissen, dazu reichlich neuen Kontakten, Empfehlungen und Literatur zog ich von dannen. Erlebnisse dieser Art sollten sich in anderen Orten wiederholen. Beinahe in jedem Museum ergaben sich Hinweise auf Sammler, Förderer, Stifter, Präparierende, die teilweise regional, teilweise überregional bedeutende Sammlungen aufgebaut haben. In Saalfeld (Thüringen) besuchte ich damals zusätzlich die Sammlung Friedrich Emil Weiske (1867-1950). Weiske, beispielhaft für all jene Menschen, die mit dem Boom des naturkundlichen Interesses ihr Auskommen in fernen Ländern suchten, sei es aus Abenteuerlust, Forscherdrang, Verelendungsflucht oder anderen Motiven.

Es ist ausführlich dazu geforscht worden, warum tierliche Exponate nie „Natur als solche“, geschweige „Natur an sich“ vermitteln, sondern bewusst oder unbewusst die Präsumtionen der Ausstellenden enthalten. Präparate durchziehen Diskurse, seien es nationale, jagdliche, religiöse, politische, tribale, kolonialistische, tierethische, ökologische.

Auch die Praxisgeschichte gestaltet sich vielfältig. Präparatorische Techniken sind in ihren Anfängen durchaus verschieden. Einige Beispiele zur Nachbildung der Muskulatur: Friedrich Kerz (1852-1915) baute diese mit gewickelten Strohbünden auf, die er miteinander vernähte, und mit einer dünnen Tonschicht überzog. Karl Küsthardt (1865-1949) bildete den Muskelkörper mit Torfplatten vor, die er durch Schnitzen plastisch ausformte. Herman H. ter Meer (1871-1934) beschichtete ein Grund Modell mit einer selbst erfundenen Masse aus Torfgrus, Kleister, Gips, Phenol.

Das Innere der Präparate ist eben kaum weniger interessant als das Äußere. Auch Knochen, Augen, Zungen erzählen Geschichten. Sie führen zu handwerklichen Praktiken, die Berufsbilder, Fachsprachen und soziale Kontexte mit Leben erwecken. Modernste Untersuchungsmethoden – aus Kostengründen besonders wichtigen Museumsstücken vorbehalten – gäben darüber hinaus mannigfachen Aufschluss.

Zu gerne hätte ich gewusst, was diese aus dem Präparat „DER BÄR“ noch hätten hervorholen können. Lange befand sich das Exponat im Besitz der Familie Mann, bevor es (samt anderem Hab und Gut) von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und versteigert wurde. Das lebendige Tier stammt wohl aus Sibirien, aber wurde es auch in Russland präpariert? Oder nur dort gegerbt und erst Riga oder Lübeck plastisch aufgebaut? Doch bei manchen Recherchen heißt es, Geduld zu haben und auf Zukunft zu setzen. Bei anderen wiederum, kamen Ergebnisse heraus, die ich so nicht erwartet hatte, etwa bei der niedlichen PHALÈNE, einem kontinentalen Zwergspaniel im Naturhistorischen Museum in Wien.

Während der Arbeiten an meinen Büchern erfuhr ich, wie stark tierliche Präparation polarisiert. Viele Menschen können damit – aus nachvollziehbaren Gründen – wenig bis gar nichts anfangen, einige ekeln sich sogar vor ihnen. Für mich ist und bleibt die Kunst der Präparation faszinierend. Zum einen fachlich: Als 1931 in Leipzig die DEUKEMÜS gegründet werden sollte, die „Deutsche Künstlervereinigung der Museumsdermoplastiker“, verrät schon der Name, dass diese sich ihrem Selbstverständnis nach ausdrücklich näher an der Kunst als im Handwerk verorteten. Zum anderen, weil sich Aspekte unseres eigenen Verhältnisses als Natur- und Kulturwesen darin erkennen lassen.

Angesichts ökologischer Verödung, Verwüstung und Zerstörung betonen Museen heute neben ihrem Forschungszweck besonders ihre Rolle als Arche, Naturspeicher oder Biodiversitätstresor. Mit (Sonder-)Ausstellungen, Fachtagungen, Mitmach-Events, Publikationen, Social Media und einer Fülle anderer Maßnahmen versuchen sie, ihr Selbstverständnis zu kommunizieren, Besucherinnen und Besucher für ökologische Zusammenhänge zu sensibilisieren und aufkommende Debatten zu moderieren.

Sowohl in meinem Künstlerϊnnenroman „BLÖSSE“ als auch in meinem Gedichtband „Einst werden wir Endlinge sein“ finden sich Facetten dieser – notwendigerweise offenen – Diskussion.

BLÖSSE, vom Deutschen Literaturfonds mit einem Jahresstipendium gefördert, fragt, wie sich mit Ohnmacht und Trauer umgehen lässt, wie der dramatische Schwund an biologischer Diversität künstlerisch ausgelotet werden kann. Wahrnehmung und Achtsamkeit verlustsensibel zu erweitern, bedeutet nicht zuletzt eine Kultivierung der sprachlichen Vielfalt. Fragen nach dem Verhältnis von Subjekt- und Objekt, Begriff und Begreifen, Nachahmen und Neuerschaffung, Hülle und Kern siedeln sich hier an. 

ENDLINGE, das Gedichte und Geschichten von ikonischen Präparaten versammelt, versucht, die nochmalige ‚Ausstellung‘ der Exponate in Sprache zu erkunden. Glas in seinen vielen Aspekten spielt hier eine Rolle, sei es schützend, reflektierend, blendend, verzerrend, abschottend, repräsentierend oder inkubierend. Wer das Jahrbuch der Lyrik (Schöffling) der letzten Jahr(zehnt)e verfolgt, kann nicht umhin zu sehen, wie stark naturkundliche Themen Lyrik prägen. Diplomanda, das Gedicht über CHI CHI, deren Präparat sich im Natural History Museum London befindet, ist 2024/25 darin enthalten. Dank des bayerischen Stipendiums „Junge Kunst und neue Wege“ konnte ich die Große Pandabärin und andere Exponate besuchen. 

Glück und Unglück der Recherche, worin liegt es? Das Glück, ganz klar in all den Begegnungen mit Tierliebenden, auratisch anmutenden Präparaten und Näherungen an Zeiten und Räume, die vermittelt erfahrbar werden. Das Unglück lag nie in wirklich in Geschichten, die sich anders entwickelten als erwartet. Oft liegt in dem Unverhofften gleichfalls sehr Interessantes. Nein, das Unglück liegt vor allem in dem Gefühl, gegenüber dieser Schönheit und Fülle, die wir uns zu vernichten anschicken, ohnmächtig zu sein. Bei einem Besuch im Naturkundemuseum Stuttgart (Schloss Rosenstein) hörte ich an den Schließfächern die Worte eines Mädchens. Sie mache manchmal die Augen zu, sagte es zu seiner Mutter: „Und dann stelle ich mir vor, wie die erwachen.“ Die Kleine meinte die Präparate, ich hörte es auch als Apell an alle Verantwortlichen.

Elvira Steppacher BLÖSSE. Künstlerinnenroman

ISBN 978-3-99200-379-2

416 Seiten / Gebundene Ausgabe / 26 Euro

Erscheint am 1. Oktober 2024

Elvira Steppacher Einst werden wir Endlinge sein.

Gedichte und Geschichten tierlicher Präparate

ISBN: 978-3-946989-86-8

200 Seiten / Gebundene Ausgabe mit Fotos / 22 €

Erscheint am 14. Oktober 2024

Ausgewählte Literaturhinweise

Andrei, Mary Anne: Nature’s Mirror. How Taxidermist Shaped America’s Naturals History Museums and Saved Endangered Species. Chicago 2020.

Baentsch, Tanja, Kratz-Kaessemeier, Kristina, Wimmer, Dorothee: Museen im Nationalsozialismus. Akteure, Orte, Politik, Köln 2016 (Veröffentlichungen der Richard Schöne Gesellschaft für Museumsgeschichte e.V.).

Becker, Udo: Senckenbergs historische Dioramen, Mit einem Beitrag von Annette Schersoi, Frankfurt a.M. 2020 (Senckenberg-Buch Nr. 85).

Colley, Ann C.: Wild animal skons in Victorian Britain: zoos, collections, portaits, and maps, Dorchester 2014.

Demeulemeester, Thijs, Lemaitre, Jeroen: Wonders are collectible. Taxidermy, Tranquil Beauty, Tielt 2016.

Dohm, Katharina, Garnier, Claire, Ostende, Florence (Hrsg.) Diorama. Erfindung einer Illusion. Schirn Kunsthalle, Frankfurt a.M. 2018.

Köstering, Susanne: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871-1914, Köln, Weimar, Wien 2003.

Kretschmann, Carsten: Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im 19. Jahrhundert, Berlin 2006.

Lange, Britta: Echt. Unecht. Lebensecht. Menschbilder im Umlauf. Berlin 2006.

Lange-Berndt, Petra: Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst 1850-2000, München 2009.

Oehme, Yvonne: Konservierungsmethoden in der Tieranatomie. Eine Literaturstudie, München 2016.

Oettermann, Stephan: Die Schaulust am Elefanten. Eine Elephantographia curiosa, Frankfurt a.M. 1982.

Reinhard, Sandy, Rode-Weingarten Anett, Curth, Stefan: 1757. Zoologische Präparationen aus 260 Jahren Naturhistorisches Museum Rudolstadt, Rudolstadt 2017.

Turner, Alexis:  Ausgestopft. Die Kunst der Taxidermie, Wien 2013.

Welzbacher, Christian: Das totale Museum. Über Kulturklitterung als Herrschaftsform. Berlin 2017.

van Hoorn, Tanja: Naturgeschichte in der ästhetischen Moderne. Max Ernst, Ernst Jünger, Ror Wolf, W. G. Sebald. Göttingen 2016.

Young, Elizabeth: Pet Projects. Animal Fiction and Taxidermy in the Nineteenth-Century Archive, Pennsylvania 2019.