Erschriebenes Leiden. Zum internationalen Literaturpreis „Gesund schreiben“und dem Wert des Erzählens.

Der mit 4.000 Euro dotierte internationale Literaturpreis Gesund schreiben der Wiener Ärztekammer wurde 2021 zum zweiten Mal verliehen. Als diesjährigen Siegertext wählte die Jury mein Prosadebüt „Was der Fall ist. Ein Stundenheft.“ aus. Da es in meinem Text um eine unheilbar erkrankte Protagonistin geht, mache ich mir in diesem Blogpost Gedanken zu Gesundheit, Krankheit, erschriebenem Leiden und dem Wert des Erzählens.

Seit es Literatur gibt, erzählen Menschen von Leid. Die Blendung des Polyphem in Homers Odysseus, die Seuche in Thukydides‘ Peloponnesischem Krieg, das Wehklagen über Körperausschlag im Buch Hiob bzw. die dämonische Inbesitznahme im Sumerischen Ijob gehören zu den ältesten Bekundungen von körperlicher Versehrung überhaupt.

Obwohl Gesundheit in Umfragen  höchste Ränge erzielt, scheint sie erzählerisch kein Sujet von Belang. Das erschriebene Leiden hingegen hat Weltliteratur hervorgebracht. Wir verbinden neuzeitliche Werke geradezu mit Patientinnen und Patienten. Sie heißen Ophelia, Argan, Werther, Lenz, Emma, Mimi, Hanno, Gustav, Walter, Oskar, Esther, Joel, Jude oder tragen – bewusst – keine Namen (z.B. die Erzählerin in Ingeborg Bachmanns Malina). Die dazu gehörenden Erkrankungen können Wahnsinn, Schizophrenie, Melancholie, Hypochondrie, Syphilis, Hysterie, Tuberkulose, Typhus, Cholera, Aids, Krebs, Magengeschwür, selbstverletzendes Verhalten lauten, demnächst wahrscheinlich Long-Covid.

So evident das Phänomen, so wenig konnte Theoriebildung dazu fehlen. Folgen wir Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher, treten dort, wo kausale Zusammenhänge unklar sind, Annahmen an ihre Stelle. Annahmen, was eine Krankheit bedeute. Diese Bedeutungen, letztlich metaphorisierende Zuschreibungen, fungieren als Substitute für fehlende Erklärungen. Anstatt den physisch verursachenden Wirkzusammenhängen nachzuforschen, stigmatisiere die Bedeutung die Erkrankten durch Psychologisierung. Moralisierend wiesen die Bedeutungen den Leidenden selbst die Schuld dafür zu, dass sie erkrankten. Sontag zeigt auf, wie politische Rhetorik ins Feld der Diagnostik diffundiert. Metaphorisiert als aggressiver Invasor, dem kriegerisch begegnet werden müsse, warteten in der bellizistischen Beschreibung von Krebs spätkapitalistische Deutungsmuster als Scheintrost am Krankenbett (zumeist von >Frauen<) auf. So zutreffend Sontags feminismuskritische Feststellung zur Bild- und Metapherngebung sein mag, so sehr zeichnet sich eine im Kern funktionale Sicht auf den Körper ab. Der Zuversicht, alle Erkrankungen ließen sich irgendwann technisch beenden, eignet etwas zutiefst Kausalmechanisches. Sofern einer Krankheit ursächlich beizukommen sei, so die Hypothese, verschwänden ihre vorherigen Bedeutungen. Die funktionale Operabilität (also Krankheit A kann durch Behandlung B beendet werden) sorge für deren Bedeutungsschwund.

Gälte Sontags Junktim für Literatur insgesamt, verlören erzählte Erkrankungen ihre Berechtigung. Ein Motiv oder Sujet, das ohne semantische Aufladung im Text vorkommt, wäre formal überflüssig.

Das zeigt sich nicht zuletzt in Anne Boyers Bestandsaufnahme Die Unsterblichen. Krankheit, Körper, Kapitalismus. Auch hier finden sich gesellschafts-, kapitalismus- insbesondere Neoliberalismus-kritische Lesarten. Umgab die an Mamakarzinom erkrankten Frauen einst ein großes Schweigen, hat sich die Situation ein halbes Jahrhundert später in ihr Gegenteil verkehrt:

„Dem Schweigen um Brustkrebs (…) entspricht heute der Sprachlärm, den Brustkrebs erzeugt. Die Herausforderung besteht nicht mehr darin, in ein Schweigen hineinzusprechen, sondern darin, Widerstand gegen das alles übertönende Rauschen zu üben.“

Die Unsterblichen, S. 14

Boyer schildert Erfahrungen am eigenen Leib. Nachdem bei ihr ein hochaggressiver Tumor diagnostiziert wurde, wagt die Autorin ein doppeltes Experiment: Trotz erschwerter persönlicher Umstände lässt sie sich auf die extrem schmerzhafte und risikoreiche Therapie ein. Einerseits stellt sie sich so im Schreiben den eigenen Gefühlen, Ängsten, Schmerzen. Zum andern weicht sie der politischen Dimension ihrer Erkrankung nicht aus. Diese findet sich etwa in einzelnen Behandlungsschritten, im gesellschaftlichen Umfeld oder in medizinischer Sprache. Ihr erkrankter Körper wird Anne Boyer zum System innerhalb von Systemen. Umfassend nehmen diese von ihm Besitz, nicht zuletzt durch Profitgier. Solche Systeme generieren zwangsläufig Subsysteme, beispielhaft etwa in  teuren Pflegeroutinen, allfälligen Datafizierungen (S. 56f), daraus abgeleiteten statistischen Wahrscheinlichkeiten, welche neue Pflegeroutinen erzeugen. Ein Circulus Vitiosus. Die Systemzwänge, so Boyers Erkenntnis, erzeugen Überdiagnosen, Überbehandlungen, Risikoüberbewertungen  und (neoliberal gespeiste) Überbeschleunigung („Drive-by-Mastektomien“, S. 144). Zu all diesen Einschreibungen, Aufladungen und historisch gebundenen medizinischen Wissensabschnitten lautet ihr Fazit:

 „Einen Körper zu haben in der Welt, bedeutet nicht, denke ich, einen Körper in Wahrheit zu haben: Es bedeutet, einen Körper in der Geschichte zu haben.“

Die Unsterblichen, S. 231

Im Unterschied zu Sontags Essay lässt sich Boyers Text nicht rein diskursiv aufnehmen. Mit ihrer vielschichtigen Konzeption erschreibt sie ein hybrides Werk, das tagebuchartige, essayistische, reportagehafte, berichtende, literatur- bzw. filmkritische und poetische Elemente verbindet. Dieses Formprinzip spricht beredt. Warum weigert Boyer sich, einer bestimmten Erzählkonvention zu folgen, obwohl sie als „Überlebende“ (S. 14) genau das hätte tun können? Die Antwort erschließt sich im Buch. Boyer durchblickt die machtvolle Dialektik, die mit jenen heldinnenhaften Plots verbunden ist:

„Die Geschichte des eigenen Brustkrebses zu erzählen heißt, eine Geschichte des eigenen Überlebens zu erzählen, ganz im Sinne des neoliberalen Selbstmanagements – eine Geschichte darüber, wie man das atomisierte Individuum richtig spielt, selbstuntersucht und -mammografiert, und einer dank Wohlverhalten, 5-km-Läufen, grünen Bio-Smoothies und positivem Denken geheilten Krankheit.“

Die Unsterblichen, S. 15

Als Erzählmuster gilt der Autorin die siegreiche Überwindung okkupiert, als Storytelling nachgerade Teil des politischen Systems. Indem es dieses quasi stereotypisch inthronisiert, verhindert es zudem, klassifizierende Benachteiligungen (Alleinerziehende zum Beispiel) wahrzunehmen. Boyers Verstehen-Wollen erschöpft sich aber nicht in Diskurskritik. Stattdessen sucht sie nach einem Erzählen ohne Instrumentalisierung. Das bedeutet zunächst Zweifel und kritische Widerständigkeit, doch in Die Unsterblichen tastet sich Boyer sprachlich weiter voran. Sie sucht nach einer eigenen möglichen Sprache und genau darin beweist ihr Text Literarizität. Im erschriebenen Leiden findet die Autorin zu einer Sprache, die fern bloßen Geräuschmachens, aber auch fern reinen Denkens oder Träumens ist: Obgleich ganz eigen, bleibt diese Sprache mitteil- und nachvollziehbar. Dadurch schafft sie die Voraussetzung für einen zentralen Aspekt von sprachlichem in der (Körper-)Welt sein, statt nur im Subjekt sein.

Wo Menschen über ihre Erkrankungen sprechen, formuliert sich eine Urszene des Entäußerns. Das gilt für das alltägliche Sprechen wie für das nicht alltäglich durchformte Sprachkunstwerk. Aus dem, was jemand leiblich spürt, wird qua Sprache etwas, das geteilt werden kann. Der Versuch, die nur für sich wahrgenommenen Empfindungen mitzuteilen, ist Bedingung dafür, dass diese nachvollzogen werden können, nicht zuletzt vom erleidenden Subjekt selbst. Gefühle wie Schmerz müssen aus der bloßen Verlautung im Stöhnen ausformuliert und ausgedeutet werden. Ein erzählender Leidender verwandelt sich daher sprachlich selbst. Durch gestaltete Spracherfahrung wird aus einem erduldenden Körper ein leibsinnliches Subjekt, aus einem bloß passiven Patiens – dem Patient, der Patientin – entwickelt sich ein aktives individuelles Selbst. So betrachtet, erleiden sich Erzählende nie allein, weil ihre Anliegen qua Sprache sozial vermittelt sind. Menschen, die zuhören, mitleiden, helfen – besonders solche in pflegenden oder medizinischen Berufen – verhalten sich wenig anders als Lesende, Verstehende.

Auch wenn Versprachlichung seinem Charakter nach dialogisch ist, schließt das keineswegs aus, dass der Körper einem fremd wird. Wieviel  des eigenen Körpers ist überhaupt „mein“, wenn er sich regelmäßig zellular erneuert und Mikrobiome wesentlich über mein körperliches Wohlbefinden mitbestimmen? In solcher Fremdwerdung, die auch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten erschließt, gleicht das Erzählsubjekt einem Nature Writer – nur beginnt seine Naturerfahrung ganz konkret am eigenen Leib.

Exemplarisch lässt sich dies an einer Erzählung von Nastassja Martin nachvollziehen. An das Wilde glauben beruht auf einer wahren Begebenheit der knapp 30-jährigen Anthropologin, die Jahre in Kamtschatka forschte. Im Forschungsfeld wird sie von einem Bären angefallen. Das Tier schlägt ihr sein Gebiss in Gesicht und Schädel, beißt aus dem Kopf der Forscherin Stücke heraus, tötet sie aber nicht:

„Der Bär ist seit ein paar Stunden weg, und seitdem warte ich darauf, dass der Nebel sich auflöst. Die Steppe ist rot, die Hände sind rot, das geschwollene, zerrissene Gesicht gleicht sich nicht mehr. Wie in den Zeiten des Mythos herrscht die Ununterschiedenheit, ich bin diese undeutliche Form (…). Alle Geräusche, die ich höre,  sind verstärkt, ich höre wie das Raubtier, ich bin das Raubtier. Ich frage mich einen Moment lang, ob der Bär zurückkommen wird (…). Aber ich weiß bereits, ich spüre, dass (…) er schon weit weg ist, dass er durch die Hochsteppe wankt, dass auf seinem Pelz Blut perlt.“

An das Wilde glauben, S. 8f

Vom eigenen Körper gelöst und doch in ihm wohnend (S. 10), erlebt sich die Autorin nach dem Vorfall verändert. Qualitäten des (Kraft-)Tieres gehen auf sie über. In ihrer Identität versehrt, nähert sie sich schreibend der besonderen, schamanischen Verbindung zwischen Mensch und dem Tier. Deren Präsenz zeigt sich, wenn die Autorin einen Schaulustigen, der seelenruhig ihr Elend mit dem Handy fotografiert, am liebsten vor Wut anfallen möchte:

„Ich koche vor Wut. Ich will mich auf ihn stürzen, ihm den Bauch aufreißen, seine Eingeweide packen (…)“.

An das Wilde glauben, S. 11

Martin, mehrfach operiert, fährt erneut nach Kamtschatka. Sie will sich dem Tat-Ort oder genauer Treff-Punkt der Vielstimmigkeit aussetzen, die sie seither in sich wahrnimmt. Dürfte es dem Bären genauso gehen? „Ich komme aus dem Maul eines Bären zurück. Der Rest? Ein Rätsel.“ (S. 133). Martin hofft dennoch, und zwar für beide Seiten der „animistischen Maske“. Das sogenannte Wilde, das Menschen zu gerne auf Tiere projizieren, wäre dann nicht das ganz Fremde, dualistisch Entgegengesetzte:

„Man müsste, nein, man muss um jeden Preis aus dieser reversiblen tödlichen Dualität herauskommen.“

An das Wilde glauben, S. 131

Nach binärer Logik ruft ein Mensch, der erkrankt, implizit auch das Gegenteil, die Vorstellung zu gesunden, wach. Ob als Wunsch, Hoffnung, Forderung oder Drohung – es scheint, als gäbe es Kranksein nicht ohne Gesundsein. Wir suchen eine Binarität, die uns aber eben auch entzweit, uns von einem Kranksein, das genuiner Bestandteil allen Lebendigen ist, distanziert. Der Preis wäre dann: dieses abzulehnen.

Ein in dieser Hinsicht vielsagendes, ebenso konzis wie wunderbar irrlichternd komponiertes Stück Literatur ist die kleine Erzählung von Adolf Muschg Ihr Herr Bruder. Die Hauptfigur Ferdinand Raimund – der Schauspieler und Dramatiker war ein Zeitgenosse Nestroys – erkrankt in der Fiktion an Tollwut. Der Text über den „Komödiendichter“ ist aus Sicht eines Medizinalrats an die Schwester Raimunds adressiert. Der namenlos Berichtende rechtfertigt sein Verhalten, er ‚(er-)läutert‘ das Geschehen, stellt es vermeintlich richtig. Mitspieler dieses meisterlichen Mis-en-scène sind der Briefschreiber selbst und der angeblich tollwütige Hund. Nero, trotz seines Namens, schwört der Medizinalrat, sei dieser ein Ausbund an „Gutmütigkeit“. In einem Boudoir, einem Ankleidezimmer mit mehreren Spiegeln, ereignet sich die Schlüsselszene. Der Arzt verordnet dem aus seiner Sicht eingebildeten Kranken ein seinerseits rabiates Selbstheilungsexperiment, das indessen grandios scheitert – J.G. Fichte und Jean Pauls Clavis Fichtiana (nebst Schoppe, Leibgeber, Roquairol….) lassen von Ferne grüßen. Der obduzierte Nero, ein irischer Setter, weist keinerlei Entzündungsanzeichen auf. Sein Gehirn wurde als Nasspräparat genauestens analysiert. Raimund hingegen sei überzeugt gewesen, sich durch das gutmütige Tier mit dem Virus angesteckt zu haben. Nero habe seine Hand geleckt, kurz danach bezeugte der Schauspieler alle Symptome leidenschaftlicher Tollheit, Wut, „Raserei“. Er begeht Suizid, erschießt sich mit einer Pistole. Dass der Furor seit alters nicht den komödiantischen, sondern den rhapsodischen Dichtern zugeschrieben wird, sei nur am Rande vermerkt, gilt doch die Lyrik als bewegendste Form der Dichtung, wogegen das Drama der reinigenden Katharsis zu dienen hat. Bedeutsam genug kommt Raimund selbst nur selten zu Wort, durchaus theatralisch:

„Bestie! […] Es hat mich! schreit Ihr Herr Bruder, das Vieh ist toll! schreit er, weiß wie die Wand, und hat die Hand, von der nicht einmal Blut tropft, mit Gewalt an die Brust gerissen. Ich war zugegen, gnädiges Fräulein. Ich habe die Angst Ihres Herrn Bruders zu zerstreuen gesucht, umsonst. Gerade die Unauffälligkeit der Wunde schien ihn zu verstören. Er beschwor mich allen Ernstes, ihm >>die Haut aufzureißen, damit das Gift abfließt< – das waren seine Worte, ich habe Zeugen.“

Leib und Leben, S. 9f

Später beschreibt der Arzt, er habe „ein schwaches Heulen“ gehört (S. 13), das mit dem Heulen des Raimund korrelliert. Dieser hockt mittlerweils im Vierfüßlerstand auf dem Boden des Boudoirs. Er leckt an seinem von Atemhauch vernebelten Ebenbild im Spiegel, als wolle er es abwischen. Wichtig für den Zusammenhang hier ist, dass Nero, das als anhänglich und treu imaginierte Tier, wie eine Klammer die ganze Erzählung rahmt. Mit szenisch-motivischen Zitaten, die Shakepeare wachrufen, wird ein Dualismus zwischen unschuldigem Tier (als göttlichem Geschöpf) und begnadetem, aber unseligem Mensch aufgemacht. Raimund habe seine Weisheit als „Krone der Schöpfung“ nicht zu nutzen verstanden. Doch die allegoresegleich angehängte Deutung kann das Geschehene nicht wirklich erklären, geschweige still stellen. Sie bleibt aufgesetzt. Der Medizinalrat ettikettiert den Toten, nicht den Lebendigen – an dessen wahre Wunde kommt er nicht heran. Auch, weil jener nicht spricht, dieser nicht zuhört.

Dass es auch anders geht, erweist sich im erschriebenen Leiden. Dieses begreift sich, ohne definitorischer Begriff werden zu wollen. Ob Kranksein dann noch im engeren Sinn als krank versus gesund bedeuten kann oder will, stellt sich weniger als Aporie, sondern als Möglichkeitsraum des Erlebens, der Sprache und ihres Ausdeutungsvermögen dar. In dieser Hinsicht ist Ingeborg Bachmanns Malina ein wichtiges Referenzwerk.

Wie steht es also um einen Literaturpreis mit Namen Gesund schreiben? Am Titel könnte sich Verdacht entzünden. Steckt darin ein unausgesprochenes Telos, eine heimliche Heilungszusage, gar ein – mit Byung-Chul Hans Essay (Palliativgesellschaft) zu sprechen – Gesundungszwang? In einer Zeit, die sich dank technischer wie medizinaler Optimierungsstrategien am liebsten alle körperlich-seelischen Gebrechen vom Leib halten möchte, keine unberechtigte Frage. Wer allerdings in Literatur investiert, was die Wiener Ärztekammer schon zum zweiten Mal in Kooperation mit einer namhaften Jury und dem Medienpartner Ö1 / ORF beweist, wagt gänzlich anderen als geschmeidigen, schnell zuhandenen oder pauschalen Lösungen ein Feld zu bereiten. (Die Jurorinnen und Juroren finden sich am Schluss des Beitrags).

Ich interpretiere dieses so: Allein die Werke können Rede und Antwort stehen. Nur sie zeigen, ob, wie und warum sie sich ein Telos namens Gesund schreiben einverleiben. Ob das, was sich in ihnen als ein besonderer Zustand ereignet, überhaupt als Kranksein bezeichnet und verstanden werden kann. Denn anders als die Fixierung von Erkrankung im diagnostischen Begriff suggeriert, ist die begreifende Diagnose im literarischen Text eine im Wortsinne Durch-Erkenntnis (griechisch διά (durch) γνώσις (Erkenntnis, Urteil). Bei der mehrdeutigen Präposition durch können wir unseren Fokus auf reflexive oder transzendierende Aspekte scharfstellen, aber auch kausale Aspekte mögen wir nicht vernachlässigen. Schließlich bleiben prozessuale Aspekte mitgemeint. Der Wert dieser Gnosis ergibt sich im Tun, im Sprechen oder Schreiben.

Elemente wie Perspektive, Figuren, Handlung, Zeit, Ort, Themen, Motive, Stil usw. sind für jeden Erzählkosmos formkonstitutiv, desgleichen literarhistorische Traditionen, in die ein Text sich einschreibt. Wie wird die Welt, in der das Thema Erkrankung oder Gesundung eine maßgebliche Rolle spielt, konstruiert? Welche anderen Erzählmotive spielen eine Rolle? Wie vielstimmig beschreibt das Erzählsubjekt die eigene Krankheit oder die seiner Figuren, wie nah lässt es diese ran, wie weit hält es sie von sich ab? Wie verhält es sich zu Dualismen aller Art? Wodurch erfolgt Genesung, gibt es überhaupt so etwas wie eine Restitutio ad integrum? Und, das Wichtigste, wie geht der Text mit jenem Etwas um, das am schwierigsten nachzuvollziehen ist? Ein Etwas, das sich als Schmerz, Leid, Qual, Angst zwar auf den Körper auswirkt, dessen Versprachlichung wesentlichen Anteil am Begreifen hat, ja die eigene Leiblichkeit konstituiert, wofür es allerdings keine sprachliche Geling-Garantie gibt. Vom Tod zu schweigen. Zu schweigen?

Fragen wie diese spielen nicht allein im Verstehen von Texten, sondern auch für reale Begegnungen eine zentrale Rolle. Wie auch immer sich Ärztinnen und Ärzte, Heilerinnen und Heiler, Pflegerinnen und Pfleger ihren vielfältigen Patientengruppen zuwenden, um zu helfen, sei es mäeutisch, sei es kurativ, sei es palliativ, sei es mitleidend, sei es tröstend – als Menschen benötigen sie Sprach- und Verstehenskompetenz für die Narrationen der Erkrankten. Diese anzuhören und mit den Erkrankten gemeinsam auszudeuten, erfordert Zeit, Geduld, Annäherung: an Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen, Normen und Werte.

High-Tech-Medizin kommt dabei eine ambivalente Rolle zu: einerseits wird sie als bessere, weniger fehleranfällige Alternative gefordert, andererseits als kalt und unmenschlich wahrgenommen. Wo diagnostische Tumorfrüherkennung von datengefütterten Maschinen die des Menschen übersteigt, wird absehbar, dass dem Berufsstand perspektivisch mehr und mehr technische Substituierung droht. Nicht „Hat sich der Chefarzt das angeschaut?“ wird die entscheidende Frage lauten, sondern: „Was sagen ML (Maschinelles Lernen) oder KI (Künstliche Intelligenz) dazu“?

Es kann hier nicht darum gehen, Technik im Allgemeinen zu schmähen. Unterkomplex unterschlüge das all die Leistungen, die nur durch Technologien gelingen konnten. Zur angemessenen Einschätzung gehört aber auch, dass Ärztinnen und Ärzte durch die Überlassung von Diagnostik an technische Apparaturen selbst wichtiger Qualifikationen verlustig gehen. Zu erinnern bleibt ferner, dass Technologien nie selbst für Wissen und Erkenntnis, geschweige Wahrheit sorgen können.

Ein simples Beispiel: Das MRT nimmt den Körper im Liegen auf. Damit krankt es daran, dass bestimmte Phänomene, etwa solche, die sich erst im aufrechten Stehen zeigen oder durch ein Abspreizen der Arme, gar nicht zu erfassen vermag. Die Apparatur zeigt ein apparatives Bild des Körpers, eines, das sich mehr und mehr in Datenpunkte aufzulösen beginnt. Die Methoden, mit denen sich die Medizin ihrem Gegenstand Mensch nähert, sind offen oder verdeckt Teil der Ergebnisse. Sie erkennt nicht diesen einen konkreten Menschen, sondern – mit Heisenberg – einen von der gewählten Methode und technologischen Apparatur dargestellten Menschen.

Man muss hier nicht gleich von Zurichtung sprechen, um den Unterschied zur Sprache festzustellen. Das im diagnostischen Gespräch gewählte Format des Dialogs ist nicht per se ein gelingendes. Bis auf weiteres können wir hinter das Sprechen kaum zurück (schließen wir für den Moment künftige Szenarien erweiterter Körper-Virtualität aus, die wenig bis gar nicht mehr auf Sprache, sondern biochemische, genmodulative und elektrische Analysen setzen).

Doch die Art und Weise des Miteinander Sprechens ist von Belang. Zum einen bleibt sie in politische groß-narratologische Diskurszusammenhänge eingebunden. Diese nicht nur in ihren Wertannahmen und epistemischen Voraussetzungen, sondern auch in ihrer Stilistik zu erforschen, bleibt Aufschluss gebender Forschungsgegenstand.

Im Modell der Sprache verfügen Erkrankende und Heilende, Schreibende und Lesende über – idealiter – das gleiche Instrumentarium. Ein Vorteil, der viel stärker genutzt und auf seine Wirksamkeit überprüft werden könnte. Einen sorgfältigen Einsatz moderner Technologien und Heilverfahren schließt das nicht aus, nur setzt es ihn nicht zwangsläufig an oberste Stelle. Inzwischen ist therapeutisches Schreiben im medizinischen Feld angekommen, ob in ausreichendem Maße in hinlänglicher Weise, mögen Kundigere beurteilen. In seiner Wirksamkeit begrüßt zu werden, bedeutet freilich längst nicht, anerkannt zu sein, geschweige, einen kassenärztlichen Anspruch darauf zu haben. Der Wert ausformuliertem Leidens dürfte sich klassischen Monokausalzusammenhängen entziehen. Womöglich liegt genau darin seine Wirksamkeit.

Mit pauschalen Antworten ist sowohl für die conditio humana als auch für die Kunst wenig gewonnen. Nur das eine noch: Wo die zunehmende Gewinnung von Daten verheißt, künftige Erkrankungsszenarien prognostizieren zu können, gilt es, das Ziel kritisch in den Blick zu nehmen. Nicht in jeder Mustererkennung liegt ein anzustrebender Zweck. Algorithmen bedürfen der ethischen Fundierung.

Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als einen „Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“. Doch wenn das größte Risiko auf dem Weg zu diesem „Zustand“ der Mensch selbst ist, gehörte dieser definitionslogisch abgeschafft. So, wie wir ihn kennen, bleibt er eine störanfällige Größe. Jedenfalls etwas, das sich nicht ohne Schaden zu nehmen fixieren lässt und sich immer schon künftigen, noch besseren Szenarien verpflichtet sieht. Hedonistisches Wohlergehen, formuliert Byung-Chul Han in Palliativgesellschaft rangiere in der Werteskala einiger bereits höher als Freiheit. Smarte Autokratie könne die Abschaffung von körperlichen und seelischem Leid viel besser leisten.

Das Problem liegt in der Abstraktion selbst. Und verweist noch einmal darauf, was zur Disposition steht. Setze ich mich sprachlich dem Hier und Jetzt aus, lebe ich nicht in einer stochastisch ermittelten virtuellen Zukünftigkeit. Vielmehr vertraue ich mich dem Augenblick voll körperlicher Gegenwärtigkeit u n d seiner Erschließung durch Sprache  an. Sofern es gelänge, wäre das eigentlich keine Rede mehr aus einem gesunden Körper, sondern eine wahre Rede in einem wirklichen Leib.

Der prämierte Text zum Nachhören

Die Schauspielerin Silvia Meisterle liest am 3.10.2021 um 21.40 Uhr im Rahmen des Ö1 Kunstsonntag in der Sendung Neue Texte aus meinem Debüt „Was der Fall ist. Ein Stundenheft.“ vor. Bis zum 8.10.2021 ist der Mitschnitt in der Mediathek verfügbar.

Die Jury

Ö1 Literaturredakteurin Edith-Ulla Gasser (Vorsitzende), Schriftsteller und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer, Lektorin Anita Luttenberger, Arzt und Autor Andreas Schindl, Literaturwissenschafterin und Kritikerin Daniela Strigl lobten in der Diskussion die gelungene Verknüpfung von Krankheit- und Naturerleben, die Verbindung der Protagonistin mit der historischen Person August Gemmings, den unsentimentalen, genauen Erzählstil, die Literarisierung von Aufzählungen und Zahlen und den teilweise bitteren Humor. Der parallel dazu vergebene, mit 1.000 Euro dotierte Publikumspreis ging an die 15-jährige niederösterreichische Schülerin Paula Dorten für „Frau Professor und Herr Kollege“. An den in Nürnberg lebenden Autor, Kolumnisten und Kritiker Theobald Fuchs erging ein Sonderpreis. Eingereicht wurden knapp 700 Texte aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Die Verleihung fand am 28. September im ORF RadioKulturhaus in Wien statt.

Die Anthologie „Gesund schreiben 2021“

Die von der Jury ausgewählten besten Texte sind in einer Anthologie erschienen: Verlag Braumüller, ISBN 978-3-99108-149-4.

Zitierte Literatur

Susan Sontag, Krankheit als Metapher, München, Hanser, 1978

Anne Boyer, Die Unsterblichen. Krankheit, Körper, Kapitalismus, Berlin, Matthes&Seitz 2021

Nastassja Martin, An das Wilde gauben, Berlin, Matthes&Seitz 2021

Adolf Muschg, Leib und Leben, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1982

Weitere Links

https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20210930_OTS0059/literaturpreis-der-wiener-aerztekammer-gesund-schreiben-2021-verliehen-bild

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