Zum 128. Todestag von August Gustl Gemming. Ein 128-Punkte-Listical statt Blumen.

  1. Grabsteine erzählen Geschichten.
  2. Grabsteine verschweigen Geschichten.
  3. Literarisch ist der Tod nicht totzukriegen.
  4. Philosophisch ist der Tod nicht totzukriegen.
  5. Soziologisch ist der Tod nicht totzukriegen.
  6. Molekular-nanotechnologisch und gentechnisch ist der Tod – vielleicht – totzukriegen.
  7. Wo der Tod ist, ist der Scheintod als Schrecken nicht weit.
  8. Es gibt spannende Museen und Ausstellungen zu beidem.
  9. Die Abschaffung des Todes weckt neue Gespenster.
  10. Niemand kann aus eigener Anschauung über den eigenen Tod schreiben.
  11. Tote sind den Lebenden ausgeliefert.
  12. Endlichkeit könnte ein (Wahl-)Schulfach sein.
  13. Sterben und Gedenken sind institutionalisiert.
  14. Der Kanon des Erinnerungswürdigen unterliegt historischem Wandel.
  15. Epigonentum ist eine Zuschreibung und impliziert Erinnerungsunwürdigkeit.
  16. Jahrestage, Feiertage, Denkmale, Gedenkstätten, Straßen und Plätze dienen der Sinnstiftung über den Tod hinaus.
  17. Viele Worte beschreiben sterben, darunter ableben, dahinscheiden, entschlafen, verlöschen, umkommen, abtreten, verrecken, krepieren. Selten sind es echte Synonyme.
  18. Sterben kennt bildkräftige Umschreibungen: ins Gras beißen, das Zeitliche segnen, über den Jordan gehen, über die Wupper gehen, hopsgehen.
  19. Sterben in Kriegen wird in der institutionellen Sprache geschönt: jemand stirbt den Heldentod, bleibt auf dem Feld, kehrt nicht mehr heim oder ist gefallen.
  20. Dass Leichenausdünstungen (Miasmen) giftig sind, ist widerlegt.
  21. Gerüche unterliegen Diskursen, unsere Sinne sind kulturisiert.
  22. Friedhöfe, Ruheforste und Friedwälder sind schützenswerte Kulturorte.
  23. Friedhöfe, Ruheforste und Friedwälder sind schützenswerte Naturorte.
  24. Friedhöfe, Ruheforste und Friedwälder enthalten Gesellschaftsutopien.
  25. Friedhöfe, Ruheforste und Friedwälder sind Sinnterritorien.
  26. Epigonen spielen nur in regionaler Erinnerungskultur eine Rolle.
  27. Geförderte Erinnerungskultur ist Teil der offiziellen Kultur.
  28. Das Kalenderblatt hat einen festen Platz im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk.
  29. Tod begegnet uns im Tod anderer Menschen.
  30. Man kann nicht ein bisschen tot sein.
  31. Nahtoderfahrungen gelten als außergewöhnliche Bewusstseinszustände, ihre Struktur zeigt Ähnlichkeit zur Quantenphysik, ihre Beschreibung Nähe zur Mystik.
  32. Feuerbestattungen der Moderne wurzeln in der Aufklärung.
  33. Karl der Große verbot die Feuerbestattung 785 n.Ch.
  34. Das Bevölkerungswachstum förderte die Kremation.
  35. Knapper werdender Raum förderte die Kremation.
  36. Hygienekonzepte förderten die Kremation.
  37. Technische Machbarkeit förderte die Kremation.
  38. Seebestattungen sind nicht nur für Seeleute.
  39. Der Wegfall des Sterbegeldes hat Einfluss auf Bestattungszeremonien.
  40. Die Inschriften auf Grabsteinen werden historisch immer kürzer.
  41. Memento mori war eine Einübung zur Bezüglichkeit von Tod und Leben.
  42. Stundenbücher halfen bei der ars moriendi, der Kunst des Sterbens.
  43. Tod (Thanatos) und Schlaf (Hypnos) werden seit der Antike gerne verschwistert, Schlaf und Tod aber eher weniger. Es heißt ich geh schlafen, statt ich geh sterben.
  44. In einigen romanischen Sprachen, darunter das Spanische, geht das Wort für Friedhof – cementerio – auf das griechische Wort für Schlafräume zurück: koimeterion.
  45. Gutes Sterben meint heute friedvolles, schmerzfreies Sterben.
  46. Sterben früher war in der Regel gewaltsam bedingt (Kindsbettrisiken, Fehldiagnosen, Unbehandelbarkeit, Unfälle, Epidemien Kriege, Justiz, Naturkatastrophen, Hungersnöte).
  47. Gevatter Tod wurde als Person gedacht und hörte auf die Namen Freund Hein, Schlafes Bruder, Schnitter oder Sensenmann.
  48. Der Tod ist männlich, es gibt aber auch die Tödin – in Entsprechung zu lat. mors (femininum).
  49. Die Aufbahrung, das Trauerjahr, die Trauerkleidung verschwanden zuerst in der urbanen Kultur.
  50. Früher – bis zur (spätindustriellen) Moderne – haben die Toten zu den Lebenden gehört.
  51. Der Tod und das Rufen scheinen verwoben, sei es durch einen Gott, einen Ahnen oder einen guten Geist.
  52. Der Tod und das Holen scheinen verwoben, sei es durch einen Gott, einen Teufel oder einen bösen Geist.
  53. Trauern wird als weiblich markiert.
  54. Die vielen Engel auf Friedhöfen tragen in der Regel die Merkmale von Frauen.
  55. Trauer- und Klageweiber erfüllen Stellvertreterfunktion.
  56. Walter Benjamin warnte vor dem Verlust der Erzählbarkeit des Todes.
  57. W.G. Sebald erzählte von korsischen Sterberitualen und berief sich auf Walter Benjamin.
  58. Für Martin Heidegger ist jedes Dasein Sein zum Tode.
  59. Für Ernst Bloch ist der Tod nicht das utopische Ende.
  60. Für Norbert Elias ist der Tod ein Problem der Lebenden.
  61. Für Elisabeth-Kübler Ross ist Sterben nur Umziehen in ein neues Haus.
  62. Für Jean Ziegler führt die Revolution über die Wiederentdeckung des Todes.
  63. Für Derrida gibt es keine Kultur, ohne die Kulte der Vorfahren.
  64. Soziologen vermuten: die institutionalisierte Sterbebegleitung kompensiert die fehlende Sinngebung des Todes.
  65. Wenn nach dem Tod nichts mehr kommt, muss soviel wie möglich vom Leben ins Leben. Davon profitiert nicht nur die Eventkultur.
  66. Eine für alle Menschen verbindliche Deutung des Todes gibt es nicht.
  67. Literatur, Musik, Tanz und bildende Kunst imaginieren Todverstehen.
  68. Aisthesis versus Factum brutum.
  69. In Franken erhielten Schüler zur Konfirmation ein Leichenhemd.
  70. Ein friedvolles Lebensende gilt als bella morte.
  71. Ob ein leblos Scheinender wirklich tot war, brachte lange Zeit Ungewissheit.
  72. Im Fernsehen wurde nie so viel gestorben wie heute.
  73. Medial sticht Mord die Todesgründe Alter, Krankheit, Freitod aus.
  74. Der unvorhersehbare, schnelle Tod erscheint als wünschenswert.
  75. Fans des HSV verfügen über einen Friedhof.
  76. Letzte Worte, sogenannte dying declarations, haben neben ihrer persönlichen oder kulturellen Validität auch juristischen Bestand.
  77. Manche letzte Worte sind zwar Legende, aber hochwirksam.
  78. Im Tod zeige sich die vorgeblich wahre Persönlichkeit eines Menschen.
  79. Totgesagte leben länger.
  80. Die Literatur der Gegenwart kennt den Schauplatz Friedhof sehr gut.
  81. Mit Jean Jaques Rousseau beginnt der Grabtourismus.
  82. Scheingrabmäler dienten als Kulisse der Landschaftsgestaltung.
  83. Spätantike und frühchristliche Sarkophage zeigen bukolische Szenerien, doch das idyllische Jenseits war Projektion, das reale Leben der Hirten traf es nicht.
  84. Die Szenen veranschaulichten hervorragende Leistungen des Verstorbenen.
  85. Die Szenen zeigten Wünsche des Verstorbenen.
  86. De mortuis nihil nisi bonum und Nil nisi bene.
  87. Von den Toten soll man nur Gutes sagen, genauer: Von den Toten nichts, außer auf gute Weise.
  88. Mitgedacht werden darf: Da sich Tote nicht verteidigen können, Kritik bitte nur fair.
  89. Bestattungspraktiken und Riten sind vielfältig wie das Leben.
  90. Das Grab ist die letzte Ruhestätte des Verstorbenen.
  91. In einigen Religionen und Kulturen besteht es für immer.
  92. Die Zerstörung von Friedhöfen ist ein Akt der Gewalt.
  93. Das Grab tröstet die Hinterbliebenen.
  94. Leichenhäuser waren Parkplätze kurz vor der Zielausfahrt: Endgültigkeit.
  95. Sie enthielten Erste-Hilfe-Koffer, falls ein Totgeglaubter wieder erwachte.
  96. Streng oder bitter riechende Kräuter dienten dazu, die Lebensgeister zu prüfen.
  97. Elektrische Experimente waren eine Methode, um den Tod zu attestieren.
  98. Schmerzempfindlichkeit ist bis heute ein Kriterium in der Feststellung des (Hirn-)Todes.
  99. Christliche Symbole wie Kreuz, Wasser, Taube, Rebstock, Engel wurden mit der Zeit durch Schmetterlinge, Fackeln, Palmzweige, Mohnkapseln ersetzt.
  100. Freimaurer verwendeten eigene Symbole wie Auge oder Zirkel und Winkel.
  101. Die Illuminaten glauben, dass der Tod lediglich den Körper umbaut. In einer neuen Stofflichkeit, mit anderen Rezeptionsorganen lebe er fort.
  102. Das Leben eines Toten nachzuzeichnen, ist bedingt möglich.
  103. Das Wesen eines Toten zu erfassen, ist unmöglich.
  104. Immer weniger Menschen sterben in der eigenen Wohnung.
  105. Literatur ist Produzentin von Sinnangeboten.
  106. Sie kann sich vom Außen wie vom Innern des Todeserlebens nähern.
  107. Mit jedem Menschen, dem eine würdige Beerdigung verwehrt wird, leidet die Würde aller Menschen.
  108. Die Geschichte der Ausgrenzung von einem würdigen Begräbnis kennt viele Gruppen: Arme, Suizidale, Kriegsfeinde, Ungläubige, Unehrenhafte, ‚Unreine‘.
  109. Das Einfrieren von menschlichen Körpern oder Teilen davon ist in Deutschland wegen des Bestattungszwangs verboten.
  110. Tiere dürfen in Deutschland kryonisch aufbewahrt werden.
  111. Cyberfriedhöfe benötigen Elektrizität.
  112. Jeder Tod, heißt es, ist ein Unglück.
  113. Manchmal ist der Tod ein Segen.
  114. Der Tod stellt, heißt es, eine Zumutung dar, eine Kränkung.
  115. Wenn man erstmal tot ist, ist man tot. (J. Joyce)
  116. Kunst ist ein Medium für die Suche nach Sinn.
  117. Der Tod ist etwas Natürliches.
  118. Der Tod ist etwas Unnatürliches.
  119. Der Tod betrifft nur den Körper.
  120. Der Tod betrifft auch den Geist.
  121. Der Tod ist ein Geschäft.
  122. Bestattung ist nur erlaubt, wenn der endgültige Herz-Kreislauf-Tod festgestellt wurde.
  123. Die Grabformel „Auf Wiedersehen.“
  124. Gemming hat in seinen Gedichten verschiedene Sterbe- und Todesauffassungen verarbeitet, hier eine Auswahl:
  125. „O lass in meiner Sterbestund‘ / An‘s Bett mir keinen Pfaffen, / Der mich mit Weihrauch und Geheul / Will in das Jenseits schaffen“ (aus dem Gedicht: Bitte.)
  126. „Der Gedanke an das Sterben/ Ist mir wirklich etwas peinlich. / Ew’ge Zeiten, dass ich lebe / Ist mir aber unwahrscheinlich.“  (aus dem Gedicht: Lebensphilosophie.)
  127.  Ja Isarthal, du bist mei‘ Freud / Zu dir zogs mich herein – / Und wenn herum ist einst mei‘ Zeit / Grabt’s in die Berg mich ein!(aus dem Gedicht: Grüaß Enk Gott! / 1888)
  128. „Dem Sarge folgt mein Pinscher, / Zwei Katzen hintendrein / Die werden meine Erben / und dann wird Finis sein.(aus dem Gedicht: Gegen das Ende zu.)

August Gemming starb am 14. Februar 1893. Er liegt auf dem Alten Nördlichen Friedhof in der Maxvorstadt in München.

Was mich mit August Gemming verbindet, lesen Sie hier:
http://www.elvira-steppacher.de/blog/de/2020/02/16/speedate-mit-folgen-der-tote-august-und-ich/

Weitere Beiträge zu  der historischen Person Gemmings unter diesem Link:
http://www.elvira-steppacher.de/blog/de/category/august-gustl-gemming/