Neue Narrative vom Sterben. August Gustl Gemming, der Alte Nördliche Friedhof und der Tod

Als Gemming am 14. Februar 1893 starb, hatte die Moderne das Sterben längst als wachstumsstarken Markt entdeckt. Bedingt durch epochemachende Erfindungen wie Dampfkraft, Elektrizität, Eisenguss, Galvanisierung, veränderte sich das Erscheinungsbild der Friedhöfe und Grabmale spektakulär. Der Tod wurde ostentativer Akt bürgerlicher Selbstrepräsentation.

Über den Tod hinaus zeigen die Grablegen erfolgreicher Mitglieder der Gesellschaft, was sie für die Moderne geleistet hatten. Sichtlich stolz auf Ausbildung und daraus resultierende Errungenschaften feiern sie sich in steinernen Monumenten und Insignien als Ingenieure, Physiker, Chemiker, Wissenschaftler, Tänzer, Sänger, Komponist, Maler oder eben Militär.

Grabplatte Wilhelm Bauer Alter Nördlicher Friedhof
Die Grabplatte des ersten U-Boot Erfinders Wilhelm Bauer (1822-1857) auf dem alten Nördlichen Friedhof in München

Erfinderstolz par excellence bezeugt die Grabplatte des ersten U-Booterfinders, Wilhelm Bauer. In der Form dem ovalen Austiegsloch des neuartigen Tauchboots nachgebildet, ergänzt die Inschrift: „Wilhelm Bauer, Sub. Marine-Ing., Konstrukteur des ersten U-Bootes […] gestorben am 20. Juni 1875 in München.“

Hinweise wie „kgl. Oberbaudirektor und Professor a.D.“ am Epitaph Gottfried von Neureuthers (+1887) sind zeittypisch. Sie finden sich so oder so ähnlich nicht nur auf dem Alten Nördlichen Friedhof, sondern überall in Europa. Gemming liegt inmitten von Zeitgenossen. Kein Wunder, der Friedhof war ja erst 1868 von Arnold Zenetti fertiggestellt worden. Auf seinem eigenen Grab dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit der Hinweis „Premierlieutnant a.D.“ gestanden haben. Der heute an seiner Grablege erinnernde Stein mit der Aufschrift „Hier ruht ein ‚Münchner Original‘ August  Gem̅ing“ stammt sicher aus späteren Jahren und wurde vermutlich aus kriegsbeschädigten Resten erstellt. Für den Erhalt seines Grabes muss sich, nach einem Hinweis in den Münchner Neuesten Nachrichten (Nr. 59, 2. März 1923), ein „alter Münchner“ namens Otto Irlinger zusammen mit einem nicht näher bezeichneten Freund eingesetzt haben.

Bei dieser Erde – wer braucht da noch den Himmel?

Das Leben im Jenseits hatte angesichts eines faszinierend gestaltbaren Diesseits seine narrative Bindekraft verloren. Entsprechend veränderten sich die Erzählungen über das Jetzt, genauso wie die über das mögliche Danach. Bürgerlich aufgeklärte Kreise fanden in den Sinnbildern der christlichen Tradition – vorzugsweise Sensenmann und Totentanz – nurmehr geringe Anknüpfungspunkte.

Figur mit Palmwedel
Figur mit Palmwedel auf dem Alten Nördlichen Friedhof. Die Inschrift auf dem Grabstein selbst ist nicht mehr vorhanden.

Ausgehend von agnostischen, humanistischen, freimaurerischen, buddhistischen oder materialistischen Diskursen wurden neue Symbole in Stein gemeißelt. Je nach Bekenntnis lösten nun Motive wie Zirkel, Lorbeerkranz, Fackel, Palmwedel oder Schmetterling die sepulkrale ikonische Tradition der Christen ab. Zwar findet sich das zentrale Motiv des Kreuzes noch weitaus überwiegend, doch schon das verlassene Grab, der Auferstandene, die Taube oder der Pelikan, der seine Jungen mit dem eigenen Blut füttert, nehmen immer mehr ab. Die Ästhetisierung des Todes begann mit der Frühaufklärung. Die als idealisierend naturnah wahrgenommenen Skulpturen der Antike fanden in den Diskursen der ästhetischen Urteilsbildung grundsätzliche Wertschätzung. Johann Joachim Winckelmann, Johann Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder sind hier zu erinnern. Winckelmann hatte ganz generell die Antike für die Intellektuellen der europäischen Moderne erschlossen, Lessing hatte mit seiner Schrift „Wie die Alten den Tod gebildet“ wichtige Impulse gesetzt, insofern der Tod auch im Bilde eines Jünglings dargestellt werden könne. Herder, eine gewichtige Stimme, sowohl als Kunstrichter wie alsTheologe, hatte Lessing gegen Anwürfe interessierter Kreise verteidigt.

Mit ihren Schriften förderten alle drei maßgeblich die Akzeptanz der griechischen Mythologie – und bereiteten der Klassik den Weg. Der griechische Todesgott Thanatos und sein Bruders Hypnos wurden als Jünglinge dargestellt, diese Idee setzte sich durch – die glattpolierten Körper ersetzten so angenehm wie nützlich (prodesse et delectrate) das wurmzerfressene allegorische Angebot von Mittelalter und Barock. Nebenbei auch den auf Grabmalen entstandenen Pomp aus Voluten und anderen spätbarocken Stilelementen. Die idealisierten, ewig jungen Figuren fügten sich perfekt in die entstehenden landschaftsähnlichen Parkfriedhöfe ein. Neben die Knaben traten zunehmend weibliche Statuen à la grecque.

Galvanisierung oder der Siegeszug des Überzugs

Dass die ursprünglich aus Bronze gegossenen Figuren schließlich massenhaft die Friedhöfe schmückten, sei es als Engel, Christus oder Thanatos verdankte sich der Galvanisierung, bei der eine dünne Metallbeschichtung skulpturale Fülle vortäuschte. Dank zweier verschiedener Verfahren, der Hohl- und Kerngalvanoplastik ließen sich Formen bald auch vorproduzieren, geringfügig individualisieren – vor allem aber zu erschwinglichen Preisen herstellen. Die heute nurmehr für Haushaltswaren und Bestecke bekannte Marke WMF, die Württembergische Metallwarenfabrik, machte lange Jahre mit Galvanoplastiken beste Geschäfte.

Gemmings Vater Karl war übrigens ein ausgewiesener Kunstkenner, der sich für die Antike interessierte und neben ur- und frühgeschichtlichen Kunstschätzen auch Münzen und prähistorische Grabbeigaben ’sammelte‘.

Sterben und Auferstehen – Die Sterbediskurse ab 1860

In diesem Kontext ist August Gustl Gemmings „Bitte.“ zu lesen. Das auf den ersten Blick einfach nur sarkastische fünfstrophige Gedicht spielt mit dem Topos der „letzten Bitte“, gibt sich also im Gestus testamentarischen Sprechens. Die letzte Strophe ist sichtlich abgesetzt:

Bitte.

O laßt in meiner Sterbestund‘
An‘s Bett mir keinen Pfaffen,
Der mich mit Weihrauch und Geheul
Will in das Jenseits schaffen.
[…]
Ob’s aufwärts dann – ob’s abwärts geht

Das kann mir sein „ganz schnuppe“,
Vielleicht dass ich als Schmetterling
mich wieder bald entpuppe.
[…]
_________________
Nur niemals als Fiakergaul, – dieß bet‘ ich täglich brünstig;
Die Seelenwand’rung meiner Treu,
Die wäre wen’ger günstig!

Gemming kennt die Sterbediskurse seiner Zeit. In der zitierten Schrift Lessings heißt es: „Endlich der Schmetterling […] Wer weiß nicht, dass der Schmetterling, das Bild der Seele, und besonders der von dem Leibe geschiedenen Seele, vorstellen (a.a.O., S. 15). So schön es wäre, der Seele Freigang zu gewähren und von den „aromat’schen Blüten“ zu kosten, den Lippen schöner Frauen Küsse zu stehlen, so recht glauben an dieses Paradies will das lyrische Ich nicht. Eine Seelenwanderung, über die die Seele nicht selbst Herr ist, muss ins Lächerliche gewendet werden.

Obgleich katholisch sozialisiert, verspottet er spätestens in seiner Militärzeit die bigotten Ausprägungen unter Militärgeistlichen. In Gemmings „Poetischen Verbrechen“ finden sich auch pantheistisch anmutende Gedichte. Wo das lyrische Ich allerdings die Natur zu „Kathedrale“ und „Altar“ erhebt, verbleibt es in den Bilderwelten des Ritus . Das Gedicht „Malheur!“ wiederum thematisiert den widersprüchlichen Zusammenhang von Herkunftsreligion, Naturglaube und Mission: „Der Pfarrer, der arme – durch dessen Gnad / Ich hatte die Tauf‘ mir erworben -/ Der ist – Gott lasse ihn ruhen sanft -/ Diesselbe N8 noch gestorben./ Mein Taufpath hieß Ottmar – der forscht die Natur, / […] / Den hab’n zwischen Pfingsten und Sinkapur / Zum Frühstück die Wildn gefressen.“

In einem weiteren Gedicht, modelliert das lyrische Ich die Frage nach Leben und Tod in einer Art Maxime oder Lebensmotto. In Strophe eins erfolgt alerdings erst einmal ein Geständnis:

Lebensphilosophie.

Der Gedanke an das Sterben
Ist mir wirklich etwas peinlich,
Ew’ge Zeiten, dass ich lebe
Ist mir aber unwahrscheinlich.

Denke d’rum bei schönen Frauen –
Und beim goldnen Saft der Reben
Wenig an ein gutes Sterben
Aber viel ans „gute Leben“.

Die in der ersten Strophe aufgerufenen Anspielungen an ein ewiges Leben (in welcher ideellen Ausprägung auch immer) werden genauso ironisiert wie die unleugbare Relevanz des Todes als letzte Notwendigkeit des Lebens. In dem doppelsinnigen Wort „peinlich“ schwingen noch Reminiszenzen des Körperlichen nach mittelalterlichen Verständnis mit, schließlich waren Leben wie Sterben in streng religiöser Auslegung ein irdenes Kreuz mit leibversehrenden, sogenannten peinlichen Strafen. Sanftes friedvolles Entschlafen galt als Zeichen, wo nicht besonderer Gnade so doch sichtlichen Wohlgefallens, galt es doch als Nachweis eines gottgefälligen Lebens.

Eine mittelalterlich-spätbarocke Fassung der Gebrechen und Leiden des Körpers sind auch in dem Topos „Denke d’rum bei schönen Frauen“ zu finden. Die Evokation der irdischen Vanitas bleibt allerdings wenig mehr als ein Echo vergangener Zeiten. Daher zitiert auch die zweite Strophe zwar klassische Bilder der christlichen Bildwelt (Wein, Saft, Weinstock, Reben), wendet diese aber gleich ins Diesseitige. Man muss nicht den epikuräischen Zug betonen, um zu erkennen, dass Gemming sich von den Jenseits-Vorstellungen christlicher Art verabschiedet. Und doch bleibt ein letzter Rest als Bodensatz enthalten. Die als „Lebensphilosophie“ anempfohlene Haltung richtet sich ja nicht nur an das sprechende Ich. In dem „Denke d’rum“ sind genauso das Ich wie alle Lesenden adressiert: „Denke [du] d’rum“. In diesem Imperativ entsteht eine Art Aufruf zum „Carpe diem“ – ohne doch des theologischen Überbaus der Vergänglichkeit noch zu gedenken. Das barocke „Ist alles eitel“ eines Andreas Gryphius hat im Zeitalter der industriellen Moderne ausgedient.

Was itzund prächtig blüht/ sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch vnd Bein/
Nichts ist/ das ewig sey/ kein Ertz/ kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück vns an/ bald donnern die Beschwerden.

Da die Formulierung ans „gute Leben“ in Anführungsstriche gesetzt wird, entsteht auch hier ein Doppelsinn. Zwischen dem ethisch anspruchsvollen Guten, das nach einer für das Gemeinwohl ableitbaren moralisch guten Lebenspraxis sucht, und seiner schlicht an üppigem Essen und reichlich Alkohol interessierten eigennützigen Ausprägung entsteht ein bewusstes Oszillieren.

Neue Narrative vom Ende: Das „gute Sterben

Das „gute Sterben“ freilich kann im 19. Jahrhundert gerade erst entstehen. Bis heute gilt es als das vorzüglichste, am hippokratischen Eid orientierte Sterbenarrativ: Kein Leiden – erst recht nicht am Ende. In der Hightechbranche Healthcare mit all ihren Apparaten und in der Palliativmedizin unserer Tage kommt es zu seinem vorläufigen Höhepunkt. Damals, zu Gemmings Zeiten, waren qualvolle Tode jedoch keine Seltenheit, wahrscheinlich Normalität.

Das zweite große Sterbenarrativ lautet: Nicht alleine. Wir wissen nicht, ob Gemming in seiner Sterbestunde begleitet wurde. Qualvoll starb er allem Anschein nach vermutlich schon. Seine Krankheit „Morbus Brightii“ war jüngst entdeckt worden. Es handelte sich um ein entzündliches Nierenleiden, bei dem die Harngefäße Eiweiß abgesondern, statt Harn abzuscheiden, wodurch die harnabsondernden Nierenkanälchen nach und nach veröden und das Organ an Volumen verliert („Schrumpfniere“). Die Krankheit konnte nur gelindert, nicht geheilt werden. Gemmings Arzt, Dr. Ernst Speer, bittet in einem Schreiben an den königlichen Invalidenfonds um Unterstützung für seinen todkranken Patienten:

Der Premmierlieutnant a.D. August Gemming liegt schon seit ca.  5 Monaten an einem hochgradigen chronischen Nierenleiden (Morbus Brightii) schwer darnieder. In Folge dieser Erkrankung hat sich eine ausgeprägte Wassersucht der Haut- und Bauchhöhle entwickelt und eine bedrohliche Schwerathmigkeit eingstellt.

Diese Zustände, verbunden mit Störungen des Schlafes und der allgemeinen Ernährung haben den Patienten so sehr geschwächt, dass er außer Stande ist, irgendwelche körperliche oder geistige Arbeit zu verrichten. Es war deshalb auch unmöglich, das vorliegende Gesuch durch ihn selbst ausstellen zu lassen. Gemming ist durch seinen Zustand auf fremde Hilfe in allen seinen Bedürfnissen angewiesen.

Quelle: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abtlg. IV Kriegsarchiv, PO Nr. 210058

Wenig später, genau acht Tage vor Gemmings Tod schreibt der Mediziner erneut, damit dessen „voraussichtlich nur mehr kurze Lebensdauer einigermaßen erträglich gestaltet werden kann.

Gehorsamst
Dr. med. Ernst Speer
Leopoldstraße 64/I“

Prinz Luitpolt genehmigt die Mittel, der Tod wartet aber nicht auf die königlich-bayerische Administration. Als die Zusage kommt, verzeichnen andere Stellen der Adinistration bereits das „Ableben“ des Premierlieutnants a.D. Was bleibt, ist die Beerdigung, die Gemmings Stiefneffe Hermann Knapp veranlasst. Für August Gustl Gemming, den ewigen Premierlieutnant a.D. heißt es nun und unumkehrbar: Premierlieutnant adé.

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