Bestsellerautor Ian McEwans Buch Maschinen wie ich – Originaltitel Machines like you (and people like me – ist von der Literaturkritik in Teilen negativ aufgenommen worden. Auf weite Strecken Nacherzählung moderner Technologiephantasien, blasse Charaktere, zu wenig literarische Gestaltungskraft lauten die Einwände. Ich glaube, dass die Bedeutung des Romans vor allem in der Komposition des Plots liegt. Er ist präzise so gearbeitet, dass unsere Kategorien von Richtig/Falsch, Ethisch gut/Ethisch fragwürdig, Gerecht/Ungerecht, Zielführend/Katastrophisch zielführend in all ihrer Ambivalenz ausgespielt werden können.
Es sind zwei große mythologische Erzählungen, die den Romanplot in der Tiefenschicht strukturieren:
- Die Geschichte des Prometheus, der Menschen nach seinem Bilde schafft.
- Die Geschichte vom Baum der Erkenntnis, der den Menschen Wissen vorenthält.
Beide betreffen fundamentale Narrative über unser Menschenbild, unsere Weltsicht und damit unser Miteinander. Zwar zitiert McEwans die abendländisch-christliche Tradition, doch der Kern der Frage ist universal: Wieviel können und sollen wir von uns selbst wissen, um eine bessere Welt zu schaffen? Können wir überhaupt eine bessere Welt schaffen? Wer oder was hilft uns dabei: Wir uns selbst, unsere göttliche Natur oder eine transzendente Entität?
Kurz zur Story
Hinweis: Um meine Deutungen zu belegen, muss ich Einiges vom Plot des Romans preisgeben. Wer sich lieber erst selbst ein Urteil bilden möchte, sollte diesen Post nicht lesen. Sämtliche Zitate stammen aus dem im Diogenes Verlag 2019 veröffentlichten Text. Alle Rechte sind dort vorbehalten. Auf der Seite findet sich auch eine Leseprobe.
Charlie, ein wohlhabender Erbe um die Thirtysomething und Miranda, eine junge Studentin, verlieben sich. Sie wohnen zufällig im selben Haus übereinander. Als Charlie einen der seltenen und teuren Humanoiden namens ADAM kauft (das Pendant EVE war leider schon vergriffen), erhofft sich Charlie, dieser könne eine Art gemeinsames Kind der beiden werden. Tatsächlich beginnt eine komplizierte Menage à trois. ADAM verliebt sich in Miranda, die durch eine Falschaussage ihre vergewaltigte Freundin rächen will. Diese Tat soll nicht bekannt werden, weil sie sonst das Sorgerecht für Mark verliert. Mark, von seinen Eltern vernachlässigt, droht in ein Heim abgeschoben zu werden. ADAM macht sie bekannt. Am Ende zerstört Charlie ADAM mit einem Hammer.
Der verbesserte Mensch, Garant für mehr Menschlichkeit?
Schon beim Auspacken des 86.000 Pfund teuren Humanoiden beruft sich der Erzähler auf einen Schöpfungsmythos – die Geburt der Venus, die Göttin der Liebe. (41)
„Er stand vor mir, vollkommen reglos im Zwielicht eines Winternachmittags. Das Verpackungsmaterial, das ich geschützt hatte, lag noch immer um seine Füße. Er entstieg diesem Wust wie Boticellis Venus ihrer Muschel.“ (41)
Da die beiden gemeinsam je zu Hälfte durch Ankreuzen festlegen, welche Eigenschaften ADAM haben soll, glaubt Charlie sich vor „bloßer Selbstverdoppelung“ (51) sicher – in Teilen ein Trugschluss, wie sich später zeigen wird:
„An meinem alten Computer im Schlafzimmer, wo Adam mich nicht sehen konnte, kreuzte ich meine Auswahl an, Ich hatte mich entschieden einfach jede zweite Frage zu beantworten […] unsere hausgemachte Variante der Genkombination. […] Wir zeugten ein Kind!“ (51)
„In gewissem Sinne wäre er wie unser Kind. Was wir jeder für sich waren, käme in ihm zusammen. Wir wären Partner und Adam unser gemeinsames Projekt, unser Geschöpf. Wir wären eine Familie.“ (37)
Die verschiedenen Schichten, die aus ADAM einen überlegenen Menschen machen sollen – ein „Betriebssystem“, eine „bestimmte […] menschliche Natur und noch dazu eine Persönlichkeit“ (40) – entziehen sich jedoch schon bald jeder Steuerung. ADAM weiß zu verhindern, dass er erneut abgeschaltet wird und produziert mit seiner Kombination aus technischen, (pseudo-)natürlichen und intentionalen „Substrate[n]“ (40) eine Mischung, die ihn menschlich und unmenschlich zugleich macht.
Mit klaren Kategorien zu Gut/Böse, Gerecht/Ungerecht ausgestattet und einem totalen Wissen über alles Vergangene und Aktuelle ausgestattet, kann er Wahrscheinlichkeiten bilden, die das menschliche Maß weit übersteigen. Paradox anmutende Lösungen, die abstrus erscheinen, führen zu einem schlüssigen Ziel. Das ändert aber nichts daran, dass diese Fähigkeit für die menschlichen Maßstäbe zumindest eine große Herausforderung darstellt. Mit dem Argument, das wir aus der Schwurformel kennen, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, begründet ADAM, warum, er die Polizei unautorisiert über Mirandas Straftat informiert.
„Natürlich kommt es immer auf die Wahrheit an. […] Was wollt ihr denn für eine Welt? Eine, in der Rache herrscht oder Recht? Die Wahl ist einfach.“ (366f)
Mit diesem Argument verwendet er ungefragt 97.000 Pfund für höhere Zwecke. Geld, das die beiden zum Kauf eines Hauses für das Wunschadoptivkind anlegen wollen. Aus ADAMS Perspektive erscheint es effektiver, andere Organisationen zu unterstützen. Finanzielle Unterstützung erhalten daher:
- zwei gut geführte Heime für Obdachlose
- ein Kinderheim für seine Kasse „Ausflüge und Extravergnügen“
- ein Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer
- eine Kinderklinik
- eine ältere Dame mit Mietrückständen, also eine potentielle von Obdachlosigkeit bedrohte Person
- das Finanzamt für Charlies Steuerverpflichtungen (360).
Im Kern stellt McEwan im Roman die Frage des cui bono? Wiegt das eine Kind, das Miranda und Charlie retten wollen, höher, als die mögliche Rettung vieler. Was ADAM unternimmt, sind Prophylaxe- und Hilfeleistungen. Mit seinen Spenden arbeitet er an einer Verbesserung der Situation, die Verwahrlosung erst ermöglicht. Es ist auch die Frage des Einzelnen vor dem Ganzen, des Individuums vor der Struktur – Faschismus, genau wie der real existierende Sozialismus haben gezeigt, dass Ideale auch zu schlimmsten Verletzung von Einzelinteressen und menschlichen Verbrechen führen können. McEwan belässt es dabei, dass seine Figuren sich entscheiden – freilich jeder auf seine Weise. Darin enthalten sind komplexe Subnarrative: Wahrheit um jeden Preis?
Mit mehr Wissen zu Wahrheit oder ist menschliche Wahrheit wahr?
Auch über den anderen Narrativstrang, den Baum der Erkenntnis, führt uns der Plot des Autors ins Offene. Von Anfang an vergiftet ADAMS überlegenes Wissen die arglose Atmosphäre zwischen Charlie und Miranda. Sie treten damit aus der Harmonie in Dissenz.
ADAM bietet Charlie Erkenntnisse einiger „Recherchen“ und „Analysen“ (47), die er unautorisiert vorgenommen hat. Demnach solle Charlie Miranda lieber nicht vertrauen, da „eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie eine Lügnerin ist. Eine systematische, böswillige Lügnerin.“ (48)
Erbost will Charlie ADAM verkaufen, dann abstellen, ihm eine Lektion für seine „Illoyalität“ erteilen (51-54), schließlich nagt aber doch der Zweifel in ihm. Er versucht herauszufinden, welche Daten und Fakten ADAM zu seinem Ergebnis brachten. Bevor er den Roboter reaktiviert, stellt er auf eigene Faust Nachforschungen an. (56) ADAM sollte Recht behalten, Miranda hat etwas zu verheimlichen. Doch auch hier ist der Plot wieder dichter als man denkt. Sie hat etwas Falsches getan, um etwas aus ihrer Sicht Richtiges zu erwirken. Dafür hat sie sich eine nicht reale Geschichte ausgedacht.
Sie hat den Vergewaltiger ihrer Freundin durch eine Falschaussage hinter Gitter gebracht. De facto hat sie selbst eine Vergewaltigung simuliert. Miranda tritt als Racheengel auf den Plan, weil ihre Freundin sich das Leben nahm. Dies aus Angst vor Scham, dass das Wissen über ihre Vergewaltigung nicht mehr aus der Welt zu bekommen sei – im Zeitalter von Datenspeicherung keine unbegründete Angst. Das Beispiel zeigt, wie komplex die Geschichte zu werden beginnt. Menschlich, ethisch, aber auch realitätstheoretisch. Es ist eine Simulation, die eine konkrete Realität erschafft. Ausgerechnet ADAM, Simulationsexperte par exzellence, sorgt dafür, dass Miranda sich in der Realität für ihre Tat verantworten muss.
Auch die Liebesgeschichte zwischen den drei Protagonisten wird mit Kategorien von Wissen und Nicht-Wissen ausgestaltet. Erneut spielt ADAMS Existenz eine große Rolle, nicht zuletzt dadurch, dass er sich in Miranda verliebt. Anfangs betrachtet Charlie ADAM nicht als „Rivale[n]“ (37), zumal Miranda sich etwas vor ihm gruselt und seine plastische Zunge und seinen enormen Wortschatz „unheimlich“ (37) findet.
Pikanterweise ändert sich das Setting als Miranda nach einem Streit mit Charlie Sex mit ADAM hat. Sie spielt die Bedeutung der Erfahrung herunter, er sei nicht mehr als ein großer „Vibrator“ (129) oder „Dildo“ (134), eine „Maschine, eine verfickte Maschine“, was Charlie zu der eifersüchtigen Formulierung „eine fickende Maschine“ (129) veranlasst. Sehr schnell erkennt Charlie, dass von ADAM eine Gefahr ausgeht, weil sich der One-Night-Stand zur „Affäre“ auszuwachsen drohen könnte. (129) Miranda entlarvt die narzisstische Kränkung Charlies (137), die beiden streiten, ob es sich nun um einen „Plastikroboter“, eine „Sexpuppe“ oder einen „Mensch“, gar einen „tollen Liebhaber“ handelt. Erst als Charlie ein Geheimnis offenbart, dass ADAM ihm über Miranda entdeckt hat, vereinen sich die beiden wieder – „vereint gegen Adam“ (135)
Welche Diskurse erzeugt der Roman?
- Als Sextoy ist der Humanoid ADAM großartig, aber überfeatured. Für guten Sex benötigt er keine drei Substrate.
- Als Helfer in Sachen Haushalt, Geldanlagen und so weiter ist ein Humanoid wie ADAM unschlagbar.
- Als Weltverbesserer taugt ein Humanoid wie ADAM nur, wenn man seiner Logik strikt folgt. Dafür muss man davon überzeugt sein, dass unvermeidbare persönlichen Opfer der größeren Sache dienen. Stünde der Primat der Würde des Einzelnen zur Disposition, könnte ADAM womöglich ein Erzeuger besserer Lebensbedingungen für alle sein.
Genau dazu sind die Protagonisten im Roman nichtbereit. Sie folgen ADAM keineswegs um jeden Preis und setzen ihr persönliches Glück vor das des großen Ganzen.
Dass ADAM mit einem Hammer zerstört wird, hat symbolische Aussagekraft. Das primitivste Werkzeug seit Beginn der Menschwerdung bringt die hochkomplexe Technologie zu Fall. Doch wie ADAM in einer Sterbeszene, die zum Filmen schön ist, sagt:
„Meine gesamte Persönlichkeit ist jetzt separat gespeichert“ und „wir werden euch übertreffen … und überdauern … auch wenn wir euch lieben. Glaubt mir, in diesen Zeilen klingt kein Triumph an … Nur Bedauern.“ (369).
Mit einem schönen Haiku siecht der robotige Anteil von ADAM dahin. Die Szene weckt Erinnerungen an die Filme Her und Transcendence. Alan Turing, der im Roman mehrfach zur Sprache kommt, verurteilt Charlie daher auch. Er habe „eine bewusste Existenz“ zerstört und hoffe, dass man ihn deswegen einst verurteilen werde.
ADAM zeigt oft überraschend humane Verhaltensweisen, nur eben ohne alle menschlichen ‚Schwächen‘, sprich ungeschriebene, wachsweiche und sich widersprechende Übereinkünfte, die auf historisch-sozialen Vereinbarungen beruhen. ADAM kennt womöglich sogar Sozialkitt wie Notlügen, Drüber-Hinweg-Sehen usw., aber er räumt diesem Faktor keine große Bedeutung für seine Entscheidungsgrundlagen zu.
Die Liebeszusage, die ADAM als beinahe eschatologisches Vermächtnis hinterlässt, macht nachdenklich. ADAM ist von der Intention her mehr als ein Hybrid. Er ist eine Chiffre. Die Chance des besseren DRITTEN liegt im Bereich des Möglichen. Fragt sich wo? In dieser Welt hat es entweder noch keine oder nie eine.
Interessiert, wo die Robotik und Humanoid-Entwicklung in der Realität steht? Isabelle Willingers Dokumentarfilm „Hi, AI“ gibt Einblicke.
Mein Blogbeitrag zu dem Dokumentar-Film „Hi, Ai!“ findet sich hier:
http://www.elvira-steppacher.de/blog/de/2019/05/29/hi-ai/