Das mythische Potential von Namen wurzelt in den Schöpfungsgeschichten der Völker. In den Märchen, Fabeln und Legenden lebt es fort, ungebrochen in seiner Güte und Gefährlichkeit. Segen und Fluch liegen nah beieinander, gute Namensfeen stehen neben bös erzürnten. Wer einmal erlebt hat, wie aufrichtig Eltern um den Namen ihres Neugeborenen ringen, spürt etwas vom Ernst des Aktes – genau wie in den Ritualhandlungen Taufe oder Namensfeier.
Die Kraft von Namen
Die Kulturgeschichte der Namensgebung berührt alle großen Fragen der Menschheit. Bis in kommunikationsstrategische Fragen dieser Tage strahlt die Wucht dieser Macht ab. Wie gut der Name einer Marke zu ihrem Produktinhalt oder dessen Zwecksetzung passt, entscheidet wesentlich über Akzeptanz oder Ablehnung. Das gilt auch für die sogenannte Künstliche Intelligenz (KI).
Die KI-Taufpatinnen und Taufpaten
Am Kindbett der KI standen ihre Großeltern, die Logik und Philosophie sowie ihre Eltern, Informatik und Psychologie. Zur Tauffeier lud man honorige Gäste, nämlich die Robotik, die (Neuro-)Linguistik, die Pädagogik und die Kognitionswissenschaften. Genetik und Nanotechnologie haben sich inzwischen dazugesellt. Sie sind zwar keine ungebetenen Gäste, aber unkalkulierbare, solche, bei denen man nicht so recht weiß, was passiert, wenn sie das Wort während der späteren Feierlichkeiten an sich reißen.
Was sagt uns diese kleine Geschichte? Wie wir von einer Sache sprechen, welchen Namen wir ihr geben, hat Einfluss auf die Art, wie wir sie wahrnehmen, genauer konstruieren.
Erstmals verwendet wurde der Begriff „artificial intelligence“ 1956 in einem Förderantrag an die Rockefeller Stiftung. Eine Gruppe Forscher vom Dartmouth College (Hanover, USA) wollte zeigen, dass jeder Aspekt, jede Eigenschaft des Lernens und der Intelligenz so genau beschreibbar sei, dass er maschinell simuliert werden könne.
Ideengeschichtlich begleitet Künstliche Intelligenz das Nachdenken über logisches (intelligentes) Schließen, das kunstfertig (mechanisch) erzeugt wird, immer auch die Frage: Wer denkt und wer hat die im Universum herrschenden Gesetze des Denkens erschaffen? (Welcher Gott oder welches universale Prinzip hält die Welt am Laufen?) Von daher ist es nicht überraschend, dass das Reden über Intelligenz auch heute noch ein Vielfaches an Philosophemen und Weltgebäuden transportiert.
Es handelt sich um einen kulturell erzeugten techno-ontologischen Diskurs. Gerade seine Implikationen im Blick auf Ursache-Wirkung, Freiheit-Bedingtheit, Simulation und Realität werden aber häufig nicht genügend herausgearbeitet.
Der Begriff Intelligenz
Intelligenz ist im deutschen Sprachgebrauch ein junges Wort. Eines, das im 18. Jahrhundert aus dem Lateinischen entlehnt wurde und so viel bedeutet wie etwas mit Sinn und Verstand wahrnehmen. Erkennen, verstehen, Einsicht gewinnen.
Interessanterweise haben die aus dem Begriff Intelligenz gebildeten deutschen Komposita keineswegs nur positive Konnotationen: Intelligenzbolzen, Intelligenzbestie, Ausgeburt der Intelligenz sind im Gegenteil stark negativ geprägt. Aber das Deutsche kennt auch die Formulierung ein Wunder oder Ausbund an Intelligenz oder ausgestattet bzw. reich gesegnet mit Intelligenz. Daneben gibt es die Intelligenz (pl. neutral für gebildete Schichten) oder die Intelligenzia (abwertend). Anders als im Englischen Intelligence ist die Bedeutungsdimension „Nachrichten (Daten), die aufbereitet werden“ im Deutschen (bislang noch) nicht enthalten.
Die Frames von Intelligenz
Betrachtet man Frames (nach der Framingtheorie), die mit dem Begriff Intelligenz im Deutschen einhergehen, fallen drei Paradigmen auf:
- Das Zu- oder Abschreibungsparadigma: Jemand scheint in hohem oder niedrigem Maße intelligent bzw. verfügt über Intelligenz. Das Paradigma impliziert Fremdbestimmtheit.
- Das Rationalitätsparadigma: Jemand verfügt zwar über beachtliche große oder geringe kognitive und geistige Leistungsfähigkeit. Beides korreliert aber nur bedingt mit Gefühl oder emotionaler Nahbarkeit (Sympathie). Das Paradigma impliziert eine Gefühlsopposition oder -armut.
- Das Stände- oder Klassenparadigma: Die Gebildeten fühlen sich den Ungebildeten überlegen und wollen diese (emanzipatorisch) bilden bzw. (unterdrückend) nicht bilden. Beide Paradigmen argumentieren superioristisch.
Schaut man sich die Verwendungszusammenhänge in den deutschsprachigen Zeitungen an (von 1950-2010) zeigt sich:
Noch in den 60ern fällt der Begriff Intelligenz vermehrt in Diskursen mit Arbeiterschaft und Arbeiterklasse, hoch und niedrig, künstlerisch und technisch. In den 80ern kommt künstlich als dominierendes Beiwort auf, neben technisch, artifiziell, menschlich, Werkzeug. Der Begriff Roboter wird erst ab 2000 wirklich sichtbar und verschwindet um 2010 sogar erneut. Jetzt dominiert ganz klar die Kombination Künstliche Intelligenz.
Der Begriff Künstliche Intelligenz
Etwas, das wie natürlich und künstlich in Opposition steht, findet nur schwer zueinander. Entweder ist die künstliche Intelligenz leistungsfähiger (schneller, besser, präziser etc.) und wertet die natürliche Intelligenz ab. Oder sie ist eben artifizieller (künstlicher, technischer, naturfremder) und kommt an die ’natürlich bessere‘ natürliche Intelligenz nie in Gänze heran.
Beides spielt heute in den erkennbaren Widerständen gegenüber Künstlicher Intelligenz eine Rolle. In der Sache kommt erschwerend hinzu, dass die Unterscheidung zwischen künstlich und natürlich nicht erst im Konzept des Cyborgs ineinanderfließen. Analog zum Verschwimmen der Grenzen zwischen öffentlich und privat werden auf natürlich und künstlich zunehmend hybrid.
Wo zeigen sich diese Framing-Paradigmen?
Nur ein Beispiel: Wir finden das Stände- oder Klassenparadigma in den Hinweisen darauf, dass Algorithmen sozial sortieren – und selektieren. Die berechtigte Skepsis führt zu der Forderung, Algorithmen sollten transparent, erklärbar, überprüfbar und korrigierbar, sein, um Teilhabegerechtigkeit zu ermöglichen. Zahlreiche Projekte von Stiftungen, Initiativen, engagierten Algorithmik-Ethikern oder Digitalisierungskritikern nehmen an genau diesem Punkt ihre wichtige Arbeit auf (z.B. Algorithmwatch, Algorithmenethik, Bertelsmann Stiftung). Aber natürlich gilt auch: nicht bei jeder Schraubenselektion, die auf KI-Basis erfolgt braucht es zuvor eine Grundlagenkommission.
Was folgt daraus?
Der Begriff Künstliche Intelligenz bietet aufgrund seiner Frames keine guten Voraussetzungen, um kulturelle Diskurse mit der neu entstehenden Technologie im Sinne eines Aushandelns zu fördern. Da er schon flächendeckend verwendet wird und den Skeptikern der Technologie implizit Argumentationsstoff bietet, muss gleichwohl mit seiner weiteren Verwendung gerechnet werden. Die Abkärzung KI unterliegt den Frames wahrscheinlich weniger stark.
Der Begriff algorithmischer Entscheidungsfindung (engl. algorithmic decision-making) und seine Kurzform ADM-Prozess beginnt sich zumindest in der Scientific Community als Alternative zu etablieren. Sachlich zutreffender und neutraler, erinnert er zugleich daran, was die Ursache der ermittelten „Ergebnisse“ ist: Algorithmen.
In jedem Fall gilt es die Teilgebiete unter dem Sammelbegriff KI oder ADM-Prozess klar zu kategorisieren. Es macht einen Unterschied, ob man weiß, dass man Bild- oder Sprachanalyesysteme oder maschinelles Lernen als KI/ADM bezeichnet.
Mögliche andere Begriffe und Empfehlungen zur Förderung diskursiver Auseinandersetzung sollten daher als Vorschläge auf breiter Basis nicht ausbleiben. Sie werden sich in der Anwendung und Aneignung entsprechender technologischer Produkte und Situationen ohnehin ergeben.
Darüber hinaus ist ein anderes Szenario denkbar. In ihm werden die Vorteile der neuen Technologie – Erleichterung, Entlastung, Service usw. – bewusst mit dem Begriff der künstlichen Intelligenz verknüpft, um diesen mit positiven Zuschreibungen aufzuladen. Die Grunddichotomie wird damit allerdings nicht aufgelöst. Sie wird sogar bewusst gepflegt – als anthropologische Optimierung des Menschen. Mit allen Problemen, die daraus resultieren. Last but not least im Frame Optimierung von Menschen. Unsere Geschichte ist leider reich an Optimierungsversuchen, die genau das Gegenteil bewirkten. Bleiben wir gemeinsam offen, wachsam, aber verschließen wir auch nicht die Augen vor den Möglichkeiten. Es ist keineswegs trivial, wer die Patenschaft der KI/ADM angetragen bekommt. Zum Schluss möchte ich daher das Märchen „Der Herr Gevatter“ empfehlen, wo „Ein armer Mann“ nach einem Traumgesicht dem Erstbesten die Patenschaft anträgt. Da sage noch mal einmal, die Märchen hätten der Moderne nichts mehr zu sagen.
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„Ein armer Mann hatte so viel Kinder, daß er schon alle Welt zu Gevatter gebeten hatte, und als er noch eins bekam, so war niemand mehr übrig, den er bitten konnte. Er wußte nicht, was er anfangen sollte, legte sich in seiner Betrübnis nieder und schlief ein. Da träumte ihm, er sollte vor das Tor gehen und den ersten, der ihm begegnete, zu Gevatter bitten. Als er aufgewacht war, beschloß er dem Traume zu folgen, ging hinaus vor das Tor, und den ersten, der ihm begegnete, bat er zu Gevatter. Der Fremde schenkte ihm ein Gläschen mit Wasser und sagte ‚das ist ein wunderbares Wasser, damit kannst du die Kranken gesund machen, du mußt nur sehen, wo der Tod steht. Steht er beim Kopf, so gib dem Kranken von dem Wasser, und er wird gesund werden, steht er aber bei den Füßen, so ist alle Mühe vergebens, er muß sterben.‘ Der Mann konnte von nun an immer sagen, ob ein Kranker zu retten war oder nicht, ward berühmt durch seine Kunst und verdiente viel Geld. Einmal ward er zu dem Kind des Königs gerufen, und als er eintrat, sah er den Tod bei dem Kopfe stehen und heilte es mit dem Wasser, und so war es auch bei dem zweitenmal, aber das drittemal stand der Tod bei den Füßen, da mußte das Kind sterben. Der Mann wollte doch einmal seinen Gevatter besuchen und ihm erzählen, wie es mit dem Wasser gegangen war. Als er aber ins Haus kam, war eine so wunderliche Wirtschaft darin. Auf der ersten Treppe zankten sich Schippe und Besen, und schmissen gewaltig aufeinander los. Er fragte sie ‚wo wohnt der Herr Gevatter?‘ Der Besen antwortete ‚eine Treppe höher.‘ Als er auf die zweite Treppe kam, sah er eine Menge toter Finger liegen. Er fragte ‚wo wohnt der Herr Gevatter?, Einer aus den Fingern antwortete ‚eine Treppe höher.‘ Auf der dritten Treppe lag ein Haufen toter Köpfe, die wiesen ihn wieder eine Treppe höher. Auf der vierten Treppe sah er Fische über dem Feuer stehen, die britzelten in der Pfanne, und backten sich selber. Sie sprachen auch ‚eine Treppe höher.‘ Und als er die fünfte hinaufgestiegen war, so kam er vor eine Stube und guckte durch das Schlüsselloch, da sah er den Gevatter, der ein paar lange Hörner hatte. Als er die Türe aufmachte und hineinging, legte sich der Gevatter geschwind aufs Bett und deckte sich zu. Da sprach der Mann ‚Herr Gevatter, was ist für eine wunderliche Wirtschaft in Eurem Hause? als ich auf Eure erste Treppe kam, so zankten sich Schippe und Besen miteinander und schlugen gewaltig aufeinander los.‘ ‚Wie seid Ihr so einfältig,‘ sagte der Gevatter, ‚das war der Knecht und die Magd, die sprachen miteinander.‘ ‚Aber auf der zweiten Treppe sah ich tote Finger liegen.‘ ‚Ei, wie seid Ihr albern! das waren Skorzenerwurzeln.‘ ‚Auf der dritten Treppe lag ein Haufen Totenköpfe.‘ ‚Dummer Mann, das waren Krautköpfe.‘ ‚Auf der vierten sah ich Fische in der Pfanne, die britzelten, und backten sich selber.‘ Wie er das gesagt hatte, kamen die Fische und trugen sich selber auf. ‚Und als ich die fünfte Treppe heraufgekommen war, guckte ich durch das Schlüsselloch einer Tür, und da sah ich Euch, Gevatter, und Ihr hattet lange Hörner.‘ ‚Ei, das ist nicht wahr.‘ Dem Mann wurde angst, und er lief fort, und wer weiß, was ihm der Herr Gevatter sonst angetan hätte. Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-15, KHM 42“